Donnerstag, 5. November 2015

Die Antipolitischen






Die Antipolitischen:
Mit einem Kommentar von Raymond Geuss (kleine reihe)

Gebundene Ausgabe – von Jacques de Saint Victor (Autor), Aus dem Französischen von Michael Halfbrodt (Autor)

Jacques de Saint Victor, geb. 1963, ist Professor für Rechtsgeschichte und Politik an der Universität Paris VIII Vincennes-Saint-Denis. Er arbeitete als Anwalt und als Journalist bei Figaro Économie und noch heute als Kolumnist beim Figaro littéraire. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Rechtsgeschichte und der Globalisierung. Er ist Autor zahlreicher Bücher.


Saint Victor analysiert den Zusammenhang zwischen antipolitischen Strömungen und deren Forderungen nach einer direkten Demokratie mittels des Web 2.0. Er beschreibt die Gefahren, die entstehen, wenn »direkt« heißen soll, die repräsentativen Instanzen auszuschalten, insofern noch über die partizipative Demokratie hinausgehen zu wollen. Die Folgen wären eine »Klick«-Demokratie, die in Zuspitzung auch in eine Diktatur der Mehrheit münden kann. Es ist nur ein kleiner Schritt von der direkten Demokratie zur direkten Demagogie.
Die vielbeschworene Schwarmintelligenz, so Saint Victor, ist unkontrollierbar affektaffin, eine Masse bewege sich emotiv und somit strukturell explosiv gewalttätig.

Man muss es nicht so polemisch radikal formulieren wie Julian Assange, der sagte: »Facebook ist die postmoderne Version der Stasi«; dennoch führt Saint Victor aus, dass die von den »antipolitischen« Netzaktivisten befürwortete totale Transparenz leicht in einem Überwachungsstaat und die »Antipolitik« à la Beppe Grillo und seiner europäischen Mitstreiter in einem System der Autokratie enden kann, wenn man das »Konzept« zu Ende denkt.

Eine These von Saint Victor könnte man also verkürzend so zusammenfassen: Was als (zumindest potenziell) fortschrittliche Antipolitik auftritt, ist eigentlich eine Entpolitisierung, die neue Unterdrückungsformen ermöglicht und fördert.
Saint Victor malt in seinem Essay nicht den Teufel an die Wand, auch überschätzt er die »Antipolitischen« nicht, ebenso wenig übersieht er unkritisch die Mängel einer repräsentativen und partizipativen Demokratie.
Aber er nimmt die »Antipolitischen« ernst, als strukturelles Phänomen, und stellt die so schön klingende Forderung nach einer direkten Demokratie mittels der Errungenschaften des Web 2.0 auf den Prüfstand.

Für die etablierten Demokratien sind neue Zeiten angebrochen. Vordem (er)klärten Parlamente, Presse und Politik, was wie zusammenhängt. In Krisenzeiten verunsichert oder misstrauisch geworden, suchen Menschen jedoch zunehmend Orientierung und Rückhalt bei den neuen virtuellen Plattformen und Gruppierungen.

Dort wiederum greifen Populisten, Aktivisten und Bewegungen die Politikverdrossenheit vieler und den Ruf nach direkter Demokratie auf:
Sie begegnen gewählten Regierungen nicht selten mit Verachtung, stellen die Kompetenzen der vermittelnden Instanzen infrage und beklagen den vermeintlichen "Verrat" der Eliten am souveränen Volk.

 - Welche Folgen hat es, wenn die Funktionen und das Selbstverständnis, aber auch die Wertschätzung der repräsentativen Demokratie schleichend erodieren?
 - Welche Interessen verbinden die so unterschiedlichen Akteure im Netz?
 - Ist Meinungsfreiheit via Netz die wahre Demokratie, oder zielen Medienmogule auf die Ware Demokratie? 


Jacques de St. Victor konstatiert einen Prozess der Entpolitisierung, die auf schwer zu durchschauende Weise letztlich neue Abhängigkeit und Unterdrückung fördere.

5 Kommentare:

  1. Auszug aus der Einleitung

    In der Geschichte unserer Demokratien scheint ein neues Kapitel anzubrechen. Doch wie immer gelingt es uns
    kaum zu erkennen, was sich vor unseren Augen abspielt.
    Zwanzig Jahre »Showpolitik«, Verhöhnung und technokratischer Auswüchse haben, im Kontext der wirtschaftlichen und moralischen Krise, ein gekränktes Volk erzeugt, das sich, hyperaktiv oder apathisch, aus Protest oder reinem Überdruss, vor allem gegen seine Eliten wendet, und zwar gegen alle, ob politische, wirtschaftliche oder mediale, denen es vorwirft, es verraten und im Stich gelassen zu haben.
    ...

    Die Krise des alten Kapitalismus, die mit der sich abzeichnenden Internetrevolution zusammenfällt, wird laut Grillo zu einer Tabula rasa à la 1789 führen! »Wir sind eine Revolution ohne Guillotine«, verkündet er. Der
    Komiker wird nicht müde, das Verschwinden des »alten Systems« mit allem Nachdruck zu beschwören. Die politischen Parteien seien schon tot, die Gewerkschaften und die traditionellen Medien ebenfalls, selbst die Wahlen und das Parlament seien bedroht!
    ...

    Das Jahr 2011 markiert, was den Aufschwung dieser Antipolitik in den westlichen Ländern betrifft, einen Wendepunkt. Diese Tatsache hat wenig Aufmerksamkeit hervorgerufen.
    Dennoch äußert sich in dieser Gleichzeitigkeit eine bisweilen noch unsichere Geisteshaltung, die nach
    dem Welterfolg von Stéphane Hessels Buch Empört euch! erstarkte:
    Am 15. Mai 2011 begannen die spanischen Indignados mit ihrer Besetzung der Puerta del Sol in Madrid.
    Ihnen folgten im gleichen Jahr die Griechen von Aganaktismeni (die »Zornigen«), die Amerikaner von Occupy Wall Street, die sich als Vertreter der »99 % Habenichtse« gegenüber den »1 % Besitzenden« verstehen, oder die Deutschen der Piratenpartei, Vertreter der Internetgeneration, die 2011 fünfzehn Sitze im Berliner Landesparlament errangen.
    Im gleichen Jahre reformierten auch die Isländer per Internet ihre Verfassung, was die Antipolitiker in ihren
    Glauben an die Macht des Netzes bestätigte! Das stark von der Subprime-Krise betroffene Island zeigt heute das lächelnde Gesicht dieser aktiven Antipolitik, doch in Meinungsumfragen erklären 90 % der Bürger, keinerlei Vertrauen in die isländischen Politiker mehr zu haben.
    Diese Antipolitik ist nicht nur, wie man auf den ersten Blick meinen könnte, ein Sammelsurium isolierter Phänomene, sondern vielmehr Anzeichen einer tiefen Krise unserer Demokratien, wie das Beispiel Italien lehrt. Wohin wird sie führen?
    Der Durchbruch des Web 2.0 markiert eine Revolution von nicht geringerer Bedeutung als die Entstehung des Buchdrucks zu Beginn der Renaissance. Diese Web-Revolution wird unweigerlich tief reichende Konsequenzen für unsere demokratischen Institutionen haben.
    »Nichts wird mehr sein wie zuvor«
    ...

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  2. "In der Geschichte unserer Demokratien scheint ein neues Kapitel anzubrechen." Mit diesem vielversprechenden Satz beginnt der Essayband über "Die Antipolitischen". Doch der Autor, der Pariser Professor für Rechtsgeschichte und Politik, Jacques de Saint Victor, meint es negativ.

    Rebellion gegen die alte Politik

    Zentrale Figur der "Antipolitischen" ist für ihn der italienische Komiker Beppe Grillo, der 2013 in Italien mit seiner Bewegung "Fünf Sterne" aus dem Stand ein Drittel der Parlamentsplätze holte und der das Verschwinden des alten Systems mit Parteien, Gewerkschaften und Parlamenten prognostiziert. De Saint Victor stimmt dieser Einschätzung durchaus zu und spricht selber von einer "Rebellion gegen die alte Politik", allerdings qualifiziert er diese Bewegung ab: "Diese Antipolitik ist nicht nur ein Sammelsurium isolierter Phänomene, sondern vielmehr Anzeichen einer tiefen Krise unserer Demokratien."

    http://www.wdr5.de/av/audiorezensiondieantipolitischen100-audioplayer.html

    der komplette Artikel:
    http://www.wdr5.de/sendungen/politikum/rezensionen/die-antipolitischen-100.html

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  3. Warum schweigen die Lämmer? – Demokratie, Psychologie und Empörungsmanagement.
    Verantwortlich: Albrecht Müller

    Hinter diesem Titel verbirgt sich der bemerkenswerte Vortrag des Kieler Psychologieprofessors Dr. Rainer Mausfeld. Es lohnt sich, diesen Vortrag anzuhören/anzuschauen, und es empfiehlt sich, Freunde, Nachbarn und Familie zur Diskussion einzuladen. Mausfeld nimmt uns, soweit noch vorhanden, die letzten Illusionen zum Zustand der Demokratie, zum Missbrauch unserer Sympathie für Demokratie und zur Gewalttätigkeit unserer westlichen „Werte“gemeinschaft. Desillusionierung schadet nicht. Außerdem:
    Der Vortrag ist aktuell – wegen Griechenland, wegen der spürbaren Bereitschaft zu militärischen Auseinandersetzungen, wegen der alltäglichen Gewalt. Wir bieten Ihnen nicht nur die Links zum Vortrag, auf die anschließende Diskussion und auf ein Interview mit Professor Mausfeld bei Phoenix – zum leichteren und nachhaltigen Umgang mit dem Vortrag bieten wir hier [PDF – 352 KB]
    http://www.nachdenkseiten.de/…/150715-zusammenfassung-warum…

    auch noch eine Zusammenfassung und Handreichung, die die NachDenkSeiten-Leserin S.H. dankenswerter Weise zusammengestellt hat.
    Albrecht Müller.

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  4. Datei mit Quellen [PDF – 385 KB] zu dem Vortrag

    http://www.nachdenkseiten.de/upload/pdf/150715-quellen-aus-zum-vortrag%E2%80%93warum-schweigen-die-laemmer-1.pdf

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  5. Berichtigung des Links (Warum schweigen die Lämmer?)

    http://www.nachdenkseiten.de/upload/pdf/150715-zusammenfassung-warum-schweigen-die-laemmer-1_.pdf

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